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LAMENTO

Vom Tetrachord zum Lamento


Bereits in der Musiklehre der griechischen Antike galt
das diatonische Tetrachord mit dem Rahmenintervall einer fallenden Quarte als die ideale Viertonfolge.
Diesem griechischen Modell entspräche die heutige Viertonfolge

A-G-F-E

Der achttönige phrygische Modus,
den die Musiklehre des Mittelalters im Gegensatz zur Antike in steigender Form darstellte, bestand aus zwei phrygischen Tetrachorden,

E-D-C-H ... A-G-F-E

Um 1600 diente das fallende phrygische Tetrachord des M.A. als Bassfundament und gleichzeitig als Melodiegerüst für die neuen akkordharmonischen Bassformeln wie Romanesca, Ciacona oder Passacaglia.

Durch Kompositionen wie Monteverdis "Aria Di Arianna" wurde nun das Tetrachord A-G-F-E zum "Lamento-Motiv" der Affektenlehre des Barock und stand für die "Affekte" Klage oder Trauer.

Als intensivierte Lamento-Spielart bildete sich der chromatische Lamentobass
A-G#-G-F#-F-E heraus.

Das Lamento als Jazz-Klischée


Im
Jazz Standard gilt das chromatische Lamento heute geradezu als "Klischéelinie" oder Guide Line sowohl im Bass als auch in der Melodie. Es dominiert oft große Teile des Songform wie etwa seine Bridge.

Das chromatische Tetrachord der griechischen Musiklehre entspräche heute der Bassfolge A-F#-F-E eines gängigen Turnarounds in Blues und Jazz wie bei der Akkordfolge A7-F#7-F7-E7.

Bei den Classical Standards europäischer Prägung basiert nicht selten der gesamte Chorus auf einem Lamento-Gerüst.

Dies wird dadurch möglich, dass der Standardabstand zwischen den vier bis sechs Lamento-Tönen nicht mehr nur in der bis dato üblichen Größenordnung eines notierten Halbtaktes, Taktes oder Taktpaares vorkommt, sondern auch je vier oder mehr notierte Takte betragen kann. Durch derartige "Aufblähungen" wird das Lamento-Konzept unweigerlich in den Stand eines "Meta-Themas" erhoben.

Im Kontext unserer beiden phrygischen Tetrachorde läßt sich das Aufkommen neuzeitlicher Akkorde durch das Einbetten der Folge C-H-A-G (jonisches Tetrachord) darstellen.

E-D-C-H phrygisches Tetrachord
C-H-A-G ionisches Tetrachord
A-G-F-E phrygisches Tetrachord

Die erste Spalte bilden die beiden neuen "harmonischen" Terzen, die "Dur"-Terz C-E oder die "Moll"-Terz A-C. Mit ihnen kam sozusagen der Dreiklang in die Welt.

Lamento und Ground als
Zweideutigkeitssysteme

Das praktische Hauptproblem lag im Einstimmen der schwarzen Klaviertasten,
weil es bereits im rein diatonischen Raum der sieben weißen Tasten unmöglich ist, gleichzeitig völlig reine Quinten (C-G-D-A-E-H...) und völlig reine Terzen (A-C-E-G-H-D...) einzustimmen.
Je reiner man die "neuen Terzen" stimmte, desto "unreiner" mussten die "alten Quinten" werden, weshalb man in der Praxis parallele Quinten vermeiden musste, d.h.
man musste letztlich immer mindestens eines der beiden phrygischen Tetrachorde "ausblenden".

Blendete man das Bass-Tetrachord A-G-F-E aus, wäre das Resultat das typische zweistimige Gerüst eines Ground.

E-D-C-H
C-H-A-G

Am Beispiel des Tones H wird das Dilemma der Renaissance gegenüner dem M.A. deutlich, denn fortan gibt es zwei "reine" H-Töne

- das "alte H" als völliig reine Quinte von E
- das "neue H" als völlig reine Terz von G

Mit dem "neuen H" würde der vormals dissonante Ditonus G-H zur wohlklingenden harmonischen Terz, was aber dadurch "bezahlt" wird, dass die vormals reine Quinte E-H zur dissonanten Wolfsquinte schrumpft.

Da also kein "rechter Winkel" zwischen den "horizontalen" Quinten der reinen Quintenstimmung und den "vertikalen" Terzen der reinen Terzenstimmung möglich ist, musste mindestens das H um beide Funktionen zu erfüllen, irgendwie "diagonal" verstimmt werden.

Man kann diese bewusste Verstimmung der "rechtwinkligen" reinen Intervalle Quinte und Terz in der Renaissance mit den leicht zugespitzten rechten Winkeln bei der perspektivischen Darstellung vergleichen.
Die Entsprechung zum Fluchtpunkt in der Perspektive, also den "Fluchtpunkt-Ton",
auf den hin sich alles zuspitzt, nennt man heute Tonika.

Der Turnaround
als Zweideutigkeitssystem


Damit war der Grundstein gelegt zur durmolltonalen Musik in ihrer neuen Eigenschaft als Zweideutigkeitssytstem (Thomas Mann). Sie entwickelte sich historisch parallel zur perspektiven Darstellung, die ja immer ein Zweideutigkeitsstem ist, welches sogar geometrisch unmögliche Figuren vortäuschen kann.
Die Ur-Zweideutigkeit dieses neuen Tonsystems liegt darin, dass es zwei annähernd ebenbürtige Möglichkeiten gibt, einen der beiden phrygischen Tetrachorde "auszublenden".

Blendet man die unterste Schicht aus, also das "Bass-Tetrachard" A-G-F-E, entsteht mit dem besagten zweistimmigen Ground das Grundmodell des Dur.

Ground als "jonisches Bass-Tetrachord"
E-D-C-H
C-H-A-G


B
lendet man hingegen die oberste Schicht aus, also das "Melodie-Tetrachord" E-D-C-H, entsteht mit dem zweistimmigen Lamento das Grundmodell des Moll.

Lamento als "jonisches Melodie-Tetrachord"
C-H-A-G
A-G-F-E

Als zweistimmige Modelle erweisen sich Ground und Lamento im Kleinen als ähnlich komplementär zueinander, wie es im Großen die Tongeschlechter Dur und Moll sind.

Desweiteren erweisen sich Ground und Lamento als regelrecht komplementär zum modernern Turnaround, welcher sich überhaupt nur als Zweideutigkeitssystem sinnvoll beschreiben lässt.

Der Turnaround ist aber nicht nur der gemeinsame harmonische Nenner des gesamten Mainstream Jazz, sondern auch seiner historischen und stilistischen Nachbarn Blues, Rock und Pop.

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